Iss doch einfach weniger!
"Ich glaube, kaum ein adipöser Mensch hat ein strahlendes Selbstbewusstsein", sagt Stephanie Bosch. Sie wiegt seit ihrer Jugend mehr als das, was für ihre Körpergröße als normal gilt. Illustration: Jessy Asmus
Übergewichtige Menschen müssen damit
leben, dass andere ungefragt über ihren Körper urteilen. Dabei ist Adipositas eine Krankheit, die nicht nur mit Essen zusammenhängt.
Von Josephine
Kanefend
Es gab eine Zeit, da wollte Stephanie Bosch nicht mehr leben. Ihre Klassenkameraden mobbten sie über die Grenzen des Erträglichen hinaus, die Schule war der reine Horror. Dazu die Blicke und Kommentare von Verwandten, Bekannten, von wildfremden Menschen auf der Straße und - noch schlimmer - die Bemerkungen im Netz. Einmal stellte sie ein Ganzkörperfoto von sich auf Instagram und bekam eine derart verletzende Nachricht zurück, dass sie sich danach jahrelang nicht traute, auf Fotos mehr als ihr Gesicht zu zeigen. Und das alles, weil sie mehr wog, als es für ihr Alter und ihre Körpergröße normal gewesen wäre. Nicht fünf, nicht zehn, sondern 50 Kilo mehr.
Dass das noch lange kein Grund ist, so mit einem Menschen umzugehen - das weiß Bosch heute, mit 25 Jahren. Als Jugendliche aber suchte sie ständig die Schuld bei sich selbst. "Selbst schuld" wird Betroffenen oft suggeriert: keine Selbstdisziplin, zu wenig Sport, ungesunde Ernährung. "Ich habe bisher noch keinen Tag erlebt, an dem ich keinen Kommentar gehört habe", erzählt die Studierende. Kein einziger Tag, an dem ihr Körper nicht von anderen beurteilt wurde, kein einziger Tag, an dem sie sich nicht für ihre Krankheit rechtfertigen musste.
Denn das ist ihr Übergewicht: eine Erkrankung. Bosch hat einen Body-Mass-Index (BMI) von 35, ab einem BMI von 30 gilt man als adipös und damit als krankhaft übergewichtig. Der Body-Mass-Index dient zur Abschätzung des Körperfettanteils und berechnet sich aus einem Quotienten: Körpergewicht geteilt durch Körpergröße zum Quadrat. Allerdings vernachlässigt er dabei die spezifischen Eigenschaften eines Menschen und ist deshalb als allgemeine Formel zu Beurteilung eines individuellen Körpers nur begrenzt geeignet. Erst vergangenes Jahr wurde Adipositas vom Deutschen Bundestag als Krankheit anerkannt, vorher galt sie schlicht als körperlicher Zustand.
Mehr als schlechte Ernährung und mangelnde Bewegung
Die Ursachen für Adipositas sind vielschichtig und deutlich komplexer, als es viele meinen: "Die Öffentlichkeit denkt, dass übergewichtige Menschen sich schlicht zu wenig bewegen und zu viel essen. Wenn dem so wäre, dann gäbe es das Problem der Adiposität nicht weltweit", sagt Claudia Luck-Sikorski. Sie ist Präsidentin der SRH Hochschule für Gesundheit und leitet die Nachwuchsforschungsgruppe "Stigmatisierung und internalisiertes Stigma bei Adipositas" des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums Adipositas-Erkrankungen (IFB) der Universität Leipzig. Zwar spielten Ernährung und Bewegung eine Rolle, jedoch seien vor allem die genetische Veranlagung und die familiäre Disposition ausschlaggebend, erklärt Luck-Sikorski. Aber auch der steigende Zuckergehalt in Lebensmitteln und eine Veränderung der Bewegungsgewohnheiten durch die Digitalisierung seien mitverantwortlich, sagt die Psychologin.
Bei Stephanie Bosch spielte vieles zusammen: Beide Eltern sind übergewichtig, "die Oma ist auch nicht die Schlankeste". Und oft bekam sie Süßigkeiten als kleine Freude von Verwandten - wie das halt so ist bei Kindern. Bosch nennt das "Konditionierung durch Belohnung". Später in der Schule wurde sie aufgrund ihres Gewichts gemobbt - dann kam sie nach Hause und aß, um die negativen Emotionen zu kompensieren. Ein Teufelskreis.
Gut gemeint, schlecht gesagt
Christel Moll ist Gründerin und Vorsitzende des Adipositas-Verbands Deutschland. Der Verein unterstützt Betroffene und leistet Aufklärungsarbeit über Adipositas und deren Folgen. Sie sieht das größte Problem im fehlenden Bewusstsein der Öffentlichkeit. "Die Gesellschaft und selbst viele Therapeuten haben Wissenslücken", sagt sie. "Solange nicht klar ist, dass Adipositas eine Krankheit ist, wird die Diskriminierung von Betroffenen nicht aufhören."
Stephanie Bosch sitzt im Münchner Ostpark und erzählt von dieser Diskriminierung: Wie sie im Schulzeugnis eine Zwei in Sport bekam, obwohl sie in jeder Prüfung eine Eins hatte, nur, weil die Lehrerin sie für unsportlich hielt. Wie bei ihrem Studentenjob im Supermarkt hinter ihrem Rücken gesagt wurde, sie solle nur an der Kasse arbeiten, da sie beim Einräumen der Regale bestimmt zu langsam sei. Wie jeder Biss beobachtet wird. Bei der Familienfeier, bei der Arbeit, im Restaurant.
Über die Hälfte der Weltbevölkerung ist übergewichtig
Und dann gibt es da noch die Kategorie "Gut gemeint, schlecht gesagt", wie Bosch das ausdrückt. Einmal, es hatte 30 Grad, war sie auf einer Sommerparty und trug ein kurzes Kleid ohne Strumpfhose, als ein anderer Gast ihr sagte, wie mutig es sei, dass sie sich das traue. "Keine Frau hätte an so einem Tag eine Strumpfhose angezogen", sagt Bosch. "Warum sollte ich?" Es sind scheinbar Kleinigkeiten, häufig nicht böse gemeint. Aber wenn man so etwas jeden Tag hört, macht das doch etwas mit einem. "Ich glaube, kaum ein adipöser Mensch hat ein strahlendes Selbstbewusstsein", sagt Bosch.
Oft sind Minderheiten von Diskriminierung und Stigmatisierung betroffen. Bei Adipositas ist das nicht der Fall. Weltweit sind 39 Prozent der Erwachsenen übergewichtig, 13 Prozent sind adipös. Laut Weltgesundheitsorganisation hat sich die Zahl adipöser Menschen seit 1975 fast verdreifacht. Dass die Diskriminierung mit der zunehmenden Verbreitung von Adipositas abnehme, sei wissenschaftlich nicht nachweisbar, sagt Luck-Sikorski. Jedoch zeige das Beispiel der USA einen dramatischen Trend: Dort würden Übergewichtige mit einem BMI zwischen 25 und 30 gar nicht mehr als solche wahrgenommen, während vor allem stark Adipöse, mit einem BMI von 40 oder höher, von Stigmatisierung betroffen seien. Diese Gruppe wachse auch in Deutschland und sei gleichzeitig diejenige, die am meisten unter den Folgen von Diskriminierung leide, so Luck-Sikorski. "Das ist sehr dramatisch."
Zuhören statt urteilen
Bosch besucht seit anderthalb Jahren eine Selbsthilfegruppe. Das hat ihr geholfen, einen anderen Umgang mit den negativen Erfahrungen im Alltag zu finden. Mittlerweile schafft sie es mehr und mehr, die Andeutungen und Blicke anderer an sich abperlen zu lassen, meist ignoriert sie es einfach. "Es ist wichtig, den Fehler nicht bei sich zu suchen. Die Tatsache, dass mich jemand auf mein Gewicht reduziert, liegt nicht an mir, sondern ist ein Problem der anderen Person."
Was sie sich von ihren Mitmenschen wünscht? "Dass andere mich akzeptieren, wie ich bin, und mir nicht ihre Meinung aufdrücken - selbst wenn sie gut gemeint ist." Und: mehr Interesse gegenüber Betroffenen. "Wenn man in einem respektvollen Ton nachfragt, werden die wenigsten beleidigt oder sauer sein." Dann würde sich auch die Wissenslücke schließen, von der Christel Moll spricht. Und Stephanie Bosch müsste sich nicht mehr anhören, wie mutig es sei, im Sommer keine Strumpfhose zu tragen.